Merz hört mit – Steilvorlage ins Abseits

Fulda/ Gießen. Fußball, so viel ist sicher, ist ein rätselhaftes, vielerlei Deutungen zulassendes Phänomen. Diese Tatsache macht ihn der Politik wesensverwandt. Vom Fußball wird gesagt, er sei nicht etwa eine Sache auf Leben und Tod, nein: es sei mit ihm noch viel schlimmer. Lässt sich genau das nicht auch von der Politik sagen, freilich mit dem Unterschied, dass diese auch dann viel schlimmer ist, wenn es nicht um Leben und Tod geht? Muss nicht auch in der Politik das Runde ins Eckige, ist nicht das Tor in seiner bedingungslosen Viereckigkeit für den Fußball das, was für die Politik die Rahmenbedingung ist? Und ist nicht das Zeitfenster in der Politik, wo zwar der Tag lang ist, die Aktuelle Stunde aber nur 30 Minuten währt, noch enger gestrickt als im Fußball, wo der Ball rund ist und das Spiel 90 Minuten dauert? Gewinnt nicht in der Politik, wer ein Prozent mehr hat, so wie im Fußball der, der ein Tor mehr schießt?

Und ist nicht auch in der Politik die Frage nach der Aufstellung die alles entscheidende? Soll man den guten alten Catenaccio anwenden, den Libero zugunsten der Doppel-Sechs auflösen, hoch stehen oder tief gestaffelt, Vorchecking oder Pressing, mit hängender Spitze oder falscher Neun, Kick-‘n-rush oder Tiki-Taka: stellen sich all diese Fragen nicht auch in der Politik und wäre es nicht an der Zeit, neben den Beckenbauer’schen kategorischen Imperativ „Geht’s raus und spielt’s Fußball!“ einen Merkel‘schen „Geht’s rein und schafft das!“ zu stellen? Bonn oder Berlin, Hauptsache Italien? Kurzum, es sind der Analogien zwischen Fußball und Politik zu viele, als dass wir sie hier alle aufzählen, geschweige denn vertieft analysieren könnten. Selbst bei einer so breit aufgestellten Kolumne wie dieser wäre das eine Herkulesaufgabe, der wir uns mental gesehen nicht gewachsen fühlen, obwohl wir vom Feeling her ein gutes Gefühl haben, aber die Patellasehne, die alte Adduktorenzerrung und dann der Druck, der Druck…..

Bevor wir also eines der in Fußball, Politik und Publizistik weit verbreiteten Eigentore schießen, konzentrieren wir uns lieber auf eine der wichtigsten fußballpolitischen Übungen, nämlich: die Steilvorlage. An ihr scheiden sich die Geister. Wird in der arrivierten Fußball-Spielkultur christlich-abendländischer Prägung heutzutage eher der Boateng’sche Diagonalpass von rechts hinten nach links vorne präferiert, bevorzugt man in der Politik die noch aus den Kick-’n-rush-Tagen stammende, bisweilen an den simplen Befreiungsschlag erinnernde Steilvorlage. „Unter einer Steilvorlage versteht man im Fußball einen Pass eines Spielers vor das Tor, der dann relativ leicht in einen Treffer verwandelt werden kann. Dabei wird der Ball steil nach vorne, fast parallel zur Seitenlinie gespielt, so dass der ihn annehmende Spieler sich mit dem Ball gleich nach vorne, fast in dieselbe Richtung, weiterbewegen kann. Dabei muss zudem der Ball nicht erst mühsam gestoppt und unter Kontrolle gebracht werden, wie das bei Querpässen der Fall ist. Gelingt eine solche Vorlage, so wirkt der Spielzug elegant und effektiv.“ (Quelle: Wikipedia)

Und gerade an gleichermaßen eleganten wie effektiven, die Räume und mit ihnen den Gegner überwindenden Spielzügen ist in der Politik kein Mangel: „Neues BND-Gesetz als Steilvorlage für Diktatoren“ (Reporter ohne Grenzen, 26.09.2016) deutet schon mal sehr gut die richtige Richtung an, denn sind nicht die Vollstrecker im Strafraum für den Fußball das, was der Diktator in der Politik ist. Großes hat man auch in Österreich vor: „Eine echte Steilvorlage – Österreich sieht eine große Zukunft im Radtourismus. Die Berge stören dabei niemanden.“ (FAZ, 20.09.2016)

Österreich, sonst eher durch breitwandartiges Spiel aufgefallen und bei Wahlen eher schlecht aufgestellt, beschreitet hier mit der 3-D-Politik – nicht nur steil vorwärts, sondern auch aufwärts – das sprichwörtliche Neuland. An der Nahtstelle – das ist die Stelle dicht neben der Schnittstelle, in die die Steilvorlage, soll sie besonders elegant und effektiv sein, gespielt werden muss – an der Nahtstelle von Sport und Politik bewegt sich der Internationale Sportgerichtshof CAS: „CAS-Urteil als Steilvorlage für IOC: Russland vor Olympia-Totalbann“. (t-online.de, 21.07.2016) Freilich waren die alten Herren vom IOC nicht austrainiert genug und versemmelten den Ball, stellten sich selbst in jenes Abseits, in das Russland geschickt werden sollte – eine zwar durchaus elegante, aber nicht eben effektive Übung.

Gleiches lässt sich von der Bundesregierung sagen, jedenfalls wenn man dem Handelsblatt (handelsblatt.com, 27.05.2016) glaubt, das jener attestierte, sie vollführe nicht nur einen „Schuldenschnitt für Griechenland ins eigene Fleisch“, sondern liefere damit auch noch gleichzeitig eine „Steilvorlage für die AFD“ – ein politisches Manöver, das einerseits eher an Harakiri, andererseits eher an missglückten Rückpass mit Eigentorfolge gemahnt.

Überhaupt ist in der Politik die Richtung, in die die Steilvorlage geht, nicht immer klar. Allzu oft scheint der Gegner von ihr zu profitieren. So wird z.B. Jean Asselborns Attacke auf Ungarn zur Steilvorlage für Orban (diepresse.com, 13.09.016), Obamas Kuba-Reise zu einer ebensolchen für Trump (welt.de, 21.03.2016) und die Klagedrohung Horst Seehofers gegen die Bundesregierung eine, na was wohl, genau, „Steilvorlage für die Rechtsaußen der AFD“ (gruene-fraktion-bayern.de, 10.05.2016). Es liegt also der Verdacht nahe, dass es sich in der Politik bei der Steilvorlage allzu häufig um einen Fehlpass, einen Querschläger oder um ein Eigentor handelt oder dass gar allzu oft „der Bärendienst zur Steilvorlage (wird)“ (koeln-nachrichten.de, 06.06.2016) Aber solange die AFD die Dinger nicht reinmacht, sondern ihrerseits lauter Querschläger produziert und sich selbst ins Abseits stellt, ist alles gut. Mit Bruno Labbadia gesprochen: “Man soll das alles nicht so hochsterilisieren!“ +++ / gerhard merz